Stammtisch
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Stammtisch
In Pfützen auf feuchtgrauen Asphaltwegen verlaufen wolkenverhangene Kreise aus Tropfen. Ein Punktmuster zieht über die dunkle Oberfläche des Sees. Das Wirtshaus schmiegt sich verlassen ans Ufer. Vor dem Eingang mit dem Schirmständer steht ein Zwinger, in welchem mit nassem Fell ein Wolf und ein Bär in abgetrennten Abteilen kauern und sich misstrauisch beäugen. Drinnen im kaum besuchten Schankraum huscht eine dunkelhaarige Bedienung zwischen den Tischen umher. Abseits sitzt eine Frau mittleren Alters. Sie trägt eine rote Schlaghose mit weißen Längsstreifen, eine weiße Bluse mit roter Samtjacke und genießt ein Steak. Am Stammtisch in der Ecke kommentiert eine Runde lautstark das eigene Kartenspiel. Ein Mann mit Pelzmütze stößt seinen Nebensitzer am Arm. Jener, mit Goldkette um den Hals, darunter ein weißes T-Shirt geschmückt mit roten Halbmonden, schaut verdutzt auf.

»Wetten, die passt zu dir.« Goldkette schüttelt den Kopf. Pelzmütze steht auf und ruft zu der Speisenden: »Hey Helvetia, magst dich nicht rübersetzen zu uns?« Die Bedienung tritt dazwischen, beschwichtigt ihn mit einer Handgeste und schirmt die Gästin ab, er setzt sich wieder. »Hey Agenor!«, schallt es zum Wirt hinter dem Tresen, »noch ’ne Halbe!« Der Angesprochene beginnt zu zapfen, seine Servicebedienstete stellt ein Tablett an die Getränkeausgabe. Ihre Finger trommeln auf dem Holz der Theke. Ihr Blick gleitet durch die geöffnete Schiebetür des Nebenraums zur Terrasse, auf welcher abgedeckte Stühle und Schirme sich vorsaisonlich aneinanderdrängen. Der Wirt fragt:
»Tochter, hast du das 15 Uhr Kaffeekränzchen eingedeckt?«
»Den Trauerfall? Ja doch …« Jemand schiebt die Vorhänge am Eingang auseinander, zwei ältere Damen treten ein, klopfen sich Regentropfen von den Schultern und gegenseitig vom Rücken. Durchs Fenster dringt ein Krähen. Draußen auf einem Sprenkel sitzen ein Adler und ein Hahn. Die Dame in blauer Hose mit rotem Sakko steuert den Tresen an. Ihre Begleitung in schwarzem Kostüm über roter Bluse eilt zielsicher in den Nebenraum, dabei mit bestimmter Geste ihren goldenen Schal um den Hals drapierend.
»Bon Jour, s’il vous plait, ich ’abe eine Reservierung auf ›Marianne‹ wo bitte dürfen wir Platz nehmen?« Die Bedienung deutet zum Nebenraum, wo die Dame in Schwarz bereits an dem einzigen eingedeckten Tisch einen Platz mit Seeblick ergattert hat und die Karte studiert. Marianne begibt sich hinüber; Agenor und seine Serviceangestellte lauschen dem Klacken ihrer schweren Arbeitsstiefel auf dem Steinboden. Eine betagte Dame betritt die Lokalität, auf einen Stock gestützt steuert sie zielstrebig zum Tresen, bemerkt die offene Schiebetür und biegt ab. Ihre modische Kleidung, rote Lederstiefelletten, grünes Kostüm über weißer Bluse zieht die Aufmerksamkeit der Stammtischler auf sich, Pfeifen ertönt:
»So wahr ich Michel heiße, wäre ich doch nur ein paar Jahre früher geboren, die hätte ich mir nicht entgehen lassen, was John?« Und er klopft dem Bullen von einem Mann neben ihm kräftig auf die Schulter. Alle lachen auf. Die Dame schüttelt im Weitergehen nur den Kopf, erreicht den Tisch, an dem Marianne tuschelt: »Germania, ich sage nur, die Zeiten ändern sich: ›Soziale Unterschiede dürfen nur im gemeinen Nutzen begründet sein.‹(*FN* Zweiter Satz des ersten Artikels der Erklärung der Menschenrechte in der franz. Revolution anno 1789*FN*) Wir müssen uns vorbereiten und ein Konzept zur Eindämmung des neoliberalen Kapitalismus ausarbeiten, bevor die anderen ankommen.«
»Buon giorno le seniore, ich hoffe, ich störe nicht. Wie ich sehe, sind die besten Plätze bereits belegt«. Sie klopft energisch mit ihrem Stock an den Tisch und setzt sich »Aber besser mit Handtüchern Liegestühle am Strand belegen als mit Panzern, das nenne ich zivilisatorischen Fortschritt, nicht wahr Germania?«, spottet die Dame zur Frau in Schwarz, die vernehmlich vor sich hin grummelt »Deine Beatrice könnte auch woanders Urlaub machen, Senora Turrita!«
»’Ört auf zu streiten! Und zu provozieren Roma, das gehört sich nicht. Wir müssen uns einigen, bevor ›SHE‹ kommt. Wo bleibt nur Hispania?«
Da teilt ein Diener den Vorhang der Eingangstür und eine hochgeschossene Schwarzhaarige in gelbem Umhang, darunter ein rotes Flamencokostüm betritt die Szene. Mit lässiger Handbewegung murmelt sie ein »Danke Panza«, der Diener empfiehlt sich mit einem »Donna Hispania«. John Bull und Michel klackt die Kinnlade auf den Tisch aus mallorquinischem Kiefernholz, wie das Kleid vorüber raschelt und die Donna sich in den Nebenraum zu den anderen setzt. Sie zieht einen Fächer und verdreht die Augen. Die Bedienung nimmt die Getränke auf:
»›Auf der Terrasse nur Kännchen‹ stört uns heute nicht«, kommentiert Germania lachend und bestellt sich eine Linzer Torte, worauf auch die anderen zulangen. Als Kaffee und Tee die Tafel zieren, hebt lebhafter Gesprächslärm an, man zieht die Schiebetüre bis auf einen Spalt zu. So verpasst die Runde, wie eine elegante Blondine mit fein geflochtenen Zöpfen eintritt. Sie trägt eine blaue Hose mit gelber Bluse und setzt sich unweit von Pelzmütze und Goldkette. Ihre Wangenknochen verleihen dem Gesicht eine gewisse Strenge, welche die Nase mit einer leicht nach oben auslaufenden Spitze abmildert. Sofort treffen sie die begehrlichen Blicke der Stammtischrunde. Die Bedienung öffnet die Schiebetür und bedeutet der Blondine, sie möge ins Nebenzimmer wechseln. Gerade als jene sich erheben will, fasst eine Hand von drinnen das Holz und schiebt den Spalt zu:
»Wir würden gerne ungestört bleiben. Wir haben schließlich reserviert.« Zurück am Tisch, erkundigt sich Germania bei Hispania:
»Na wie läuft’s den so? Die Schwarzhaarige winkt genervt ab. Verständnisvoll tätschelt ihr Italia die Hand: »Amore?« Hispania seufzt und klagt über ihren Liebhaber Don Q., bis ihr Tränen in die Augen steigen.
»Und dazu der Wassermangel, aber überall greift er Pumpenhäuser an, bemüht die Gerichte, sie verschandelten die Landschaft. Mit diesem Umweltaktivisten ist es mir, ich sei die Dulcinea von Toboso.«
»Wir haben eine lange Liste, darum kümmern wir uns später« will Marianne die Gesellschaft auf Linie bringen, »Lasst und anfangen!«
»Hibernia und Caledonia sind sich wohl zu schade«, kommentiert Germania die leeren Plätze.
»Die spielen bei der EM in einer Gruppe!«, lacht Turrita laut auf. Marianne pocht trocken auf ihre Agenda, ihr Team gewänne ohnehin, da die Azurra ja mit Abwesenheit glänze, um dann unvermittelt einzusteigen:
»Die Frontex Pushbacks müssen aufhören. Wie lässt sich das am besten bewerkstelligen, irgendwelche Vorschläge?« Hinter ihrem Fächer kichert Hispania ›Fron-Text…‹, Italia drückt mit ihrem Stock den Wedel hinab:
»Das ist nicht witzig, wie du wohl jüngst gemerkt hast!« Germania mantelt sich auf:
»Also ich finde, wir sollten zuerst beraten, wie wir das Thema Belarus und Nawalny unter dem Hintergrund der Sanktionen angehen, insbesondere unter Berücksichtigung von Nordstream-2. Es fehlte noch, dass ohne Erdgaspipeline mein Volk im Kalten säße. Hier ist es übrigens ziemlich kühl, findet ihr nicht auch?« Das Telefon der Turrita klingelt: »Pronto?« Eine geordnete Diskussion wandert ins Reich der Unmöglichkeit ab: alle zücken ihr Smartphones und checken Email und Social Media Accounts.
»Hast das Posting der Katalania gesehen?«, echauffiert sich Hispania, »ich hab ja echt Bammel, dass die sich mit der Caledonia kurzschließen.«
»Ein Europa der Regionen, das fehlte noch«, schmatzt Marianne mit einem Stück Madeline im Mund. »Auf nichts vermag man sich noch verlassen, nicht einmal auf die eigenen Erinnerungen.«
»Wann kommt eigentlich die Eingeladene?«, fragt Turrita. Just ertönt das Brüllen eines Löwen, alle zucken zusammen. Auf den Gesichtern breitet sich Sorge um ihre Liebsten draußen aus, sich vorstellend, wie der Löwe in den letzten freien Zwinger gesperrt wird. Eine Hand reißt den Vorhang auf. Eine elegante Frau mittleren Alters stellt energisch ihren Parapluie in den Schirmständer. Dann klopft sie sich den blauen Hosenanzug ab, unter dem sie über weißer Bluse ein rotes Accessoiretuch trägt. Sie ordnet ihre hochgesteckten kastanienbraunen Haare und begibt sich zur Versammlung im Nebenraum, nickt lächelnd ins Kaffeekränzchen und setzt sich.
»Gerade sprachen wir von dir Britannia«, begrüßt sie Hispania. Ein freundliches Lächeln antwortet »Thanks my dear, hopefully only as trustworthy.«
»Ich hasse diesen britischen Humor« stöhnt Marianne, gleichwohl ist die Neugekommene in die Kuchenkarte vertieft.
»OMG, wo sind nur die Orangenkekse?«, was die Versammelten zum Anlass nehmen, eine weitere Runde zu ordern. Marianne bestellt nach zahlreichem Kuchen und Gebäck zusätzlich einen Armagnac, was Italia dazu bewegt schnell einen Grappa auf der Liste zu platzieren. Was wiederum Hispania zum Calvados verführt und Germania ein »Bringen sie mir einfach einen Digestiv« abnötigt. Die Bedienung serviert dazu Tee für die Neuangekommene:
»MIF or TIF?«
»Oh Dear, how pleasant, TIF please.« Als alle versorgt sind, bricht eine hitzige Debatte aus:
»Mir hingegen scheint es wichtiger über unsere Verteidigungsausgaben zu sprechen: Können wir über 200 Milliarden Euro jährlich überhaupt verantworten angesichts von weltweit 3.5 Millionen verhungerter Kinder?«
»Ich denke schon, aber die Umweltverschmutzung, die Erderwärmung scheinen mir wichtiger zu besprechen.«
»Jedoch, wenn wir die Überbevölkerung adressieren, lösen wir mehrere der Probleme vorab, nicht wahr?« Aus dem Schankraum tönt Tumult herüber, allein man lässt sich nicht stören.
»Bleibt nur die Ausbeutung der Rohstoffe, das Kobalt im Kongo für unsere Unterhaltungselektronik, der Wettlauf gegenüber China. Afrika und so.«
»Ausbeutung pah!«
»Ne, ne, der neoliberale Kapitalismus muss langfristig als Wirtschaftsform reformiert werden, das pfeifen ja sogar die Spatzen von den Dächern!«
»Hä?« Ein kurzes Schweigen ergreift die Runde, was Britannia nutzt:
»Indeed, der Seperatismus, Caledonia, Hisperia sind ein Problem. Wir können nicht alles lösen, und dann ist da noch der Mexit.« Marianne und Germania schnauben, Hispania nickt verständnisvoll und beginnt zu plaudern:
»Ich schaue immer gerne fern zur Ablenkung, meist Serien!« Britannia lächelt und steckt den Kopf zur Nachbarin: »My Dear, me too. Ich mag am liebsten Fantasy, da kann man so gut abschalten.«
»Ach ja?«, ärgert sich Marianne und Germania setzt wütend hinzu: »So wie Game of Thrones etwa?«
»Of course my dear, nur den Handlungsteil mit den Wildlingen, that’s not my cup of tea«, und sie nimmt einen Schluck.
»Ist ja typisch«, schimpft Germania weiter, wirft den goldenen Schal nach hinten über die Schulter und sich selbst in Pose: »Ist dir wohl zu politisch, weil es zu sehr an Flüchtlinge erinnert? Aber die unmotivierten Sex- und Gewaltszenen, da kannste abschalten, wa? Rose War forever!« Sie kippt energisch den vierten Mirabellenschnaps hinunter, Marianne prostet mit Italia, man schwankt bereits im Sitzen, erste Kaffeetassen kommen zu Fall. Britannia schweigt über ihrem Teller. Der Lärm vorne schwillt an, Rufe mischen sich darunter. Allein die Runde argumentiert munter weiter und bemerkt nicht einmal, dass bereits Atemwölkchen wie Sprechblasen in der Luft schweben. Mit einem Löffelkatapult schießt Marianne zur Auflockerung kleine braune Schokokügelchen über einen Ärmelkanal aus Kaffee auf Britannia und kichert dazu. Die Beschossene lehnt sich zurück, bedacht auf die Verteidigung ihrer Anmut.

Germania hievt mit der Gabel den Rest ihres Windbeutels auf den Löffel, zielt auf die Dame in Blau, feuert und – verfehlt ihr Ziel: Wie ob von einer dicken Berta abgefeuert übersteigt die Reichweite jedwede Erwartung, die Parabel des Windbeutelflugs neigt sich und Italia Turrita schreit entrüstet auf. Der Skandal nimmt seinen Lauf: Geschosse, absichtlich verschüttete Tassen abgestandenen Kaffees verunzieren Kleidung und Gesichter, Furor teutonicus regiert und Aufschreie der Empörung schwellen an, da klatscht die Schiebetür mit lautem Knall auf:
Die Serviceangestellte brüllt derart vehement »Ruhe«, dass die sofortige Einstellung jedweder Feindhandlung erfolgt. In die Waffenruhe hinein entrüstet sich die Bedienung: »Meine Damen wie können sie nur? Bitte verlassen sie unser Haus und kommen sie nicht wieder!« Entsetzt sehen sich die Schlachtenkämpferinnen an, reinigen sich mit gesengten Köpfen notdürftig mittels teils verschmutzer Servietten, sammeln ihre Habseligkeit zum Aufbruch zusammen.
»Unverschämtheit«, entrüstet sich Germania, »aber hier ist es sowie so zu ungemütlich, seit ihr die Heizung runtergedreht habt. Da verschwinden wir gerne!« Einzig Britannia bewahrt die Fassung, putzt sich so würdevoll als möglich und fragt:
»Wer seid ihr, euch ein Lokalverbot zu erdreisten?«
»Die Tochter des Wirts! Und wenn ihr es genau wissen wollt, ich heiße Europe«.
»Europe,« beteuert Britannia »ich bin hier nur Opfer dieser…«, sie deutet umher, »Umstände geworden. Ich gehöre nicht mal mehr dazu. Als einzig Nüchterne betrachte ich das Verbot für mich als ungültig und werde mich zu der Dame in rotweiß gesellen, wenn ihr gestattet, my Dear.« Europe winkt ab:
»Der Rest: Raus hier! Bevor ihr keine Regionalverwaltungen anerkennt und die Nationalstaatlichkeit überwindet, braucht ihr euch hier nicht mehr blicken lassen. Lasst euren Lobbyismus zuhause und nehmt eure Viecher mit!« Sie dreht sich um und besorgt sich Putzutensilien. Unsere illustre Runde tritt schweigend den Weg zum Aufbruch an. Im Schankraum windet sich die blaugelb gekleidete Blondine im Arm von Pelzmütze unter der Zudringlichkeit des unerwünschten Verehrers. Britannia straft den Täter mit strengem Blick, die anderen Teilnehmerinnen des Kaffeekränzchens huschen eilig vorbei nach draußen. Gerade hört es auf zu regnen, die Sonne lugt hervor und ein Regenbogen spannt sich über den See. Die Damen erreichen die Zwinger, deren Insassen schütteln sich einträchtig letzte Regentropfen aus Fell und Gefieder. Die vertriebenen Frauchen erreichen den Sprenkel, nehmen die Vögel auf und schreiten von dannen. »Siehst du den Regenbogen?«, kräht der Hahn zum Adler, der den Schnabel senkt und murmelt »Natürlich, das schaffen wir!«

Die zurückbleibenden Tiere springen tumultartig umher, ein Hüpfen, Brüllen, Röhren, umhüllt die Terrasse, auf der sich Britannia gerade an den frisch aufgebauten Tisch mit Helvetia setzt. Der Bär randaliert neben dem Löwen, der Käfig schwankt bedrohlich. Da humpelt ein altes Mütterchen mit einem weißen Kopftuch heran. Die Stimmung beruhigt sich. Die Alte reibt sich die Hände an der roten Schürze, die sie vor ihr blaues Kleid gebunden hat, öffnet leise den Verschluss des Bärenkäfigs und begibt sich ins Lokal.

Name der Autorin/des Autors
Simon Gerhol
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