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Der Kracher

Meine Chancen stehen ganz gut, wie der Anwalt sagt. Ich glaube ihm nicht so recht. Denn wenn meine Chancen wirklich gut stünden, bräuchte ich ja gar keinen Anwalt.

Jedenfalls ist es jetzt an der Zeit, sich zu verteidigen.

Agnes hat jede weitere Aussprache abgelehnt. Sollte ich noch irgendetwas von ihr wollen, so hätte ich mich ausschließlich an ihren Anwalt zu wenden.

Das verstehe ich. Wie ich mich ja immer bemüht habe, verständnisvoll und tolerant zu sein.

Allein: Sie hätte die ganze Sache wenn schon nicht vergessen, so doch zumindest auf sich beruhen lassen können. Nachtragend ist sie in den gesamten fünf Jahren nie gewesen. Ich bilde mir ein, dass sie am Anfang unserer Beziehung sogar mal zu mir aufgeschaut hat. Da hat sie noch den Rettungsschwimmer, den Lebensretter in mir gesehen. Ich wollte immer schon Bauingenieur werden, Brücken bauen, und ein Menschenfreund wollte ich bleiben.

Nach Köln-Hauptbahnhof sind wir gemeinsam gefahren, als zwei Menschenfreunde, die das Leben einfach nur bejahen. Das erste Mal wegen der Willkommensparty, im vergangenen September. Das zweite Mal, um Silvester zu feiern.

Wir wollten tanzen. Angetanzt werden wollten wir nicht.

Als alles vorbei war, endlich vorbei war, hatte ich sie ganz fest in den Arm genommen und zu trösten versucht. Wenn ich will, kann ich auch witzig sein. Und schon am 2. Januar hatte ich ihr ein neues Smartphone gekauft.

Ihre Würde konnte ich ihr nicht ersetzen.

Diebstahl hin oder her. Viele Frauen und Mädchen hatte es in dieser Nacht noch viel schlimmer erwischt. Dieses Argument hatte ich erst am 3., und dann nochmal am 4. Januar ins Feld geführt. Am 5. Januar packte Agnes das allernötigste zusammen. Ihr neues Smartphone zählte sie offenbar nicht dazu.

Mich hat sie bestraft. Mich. Dabei habe ich doch gar nichts gemacht. „Eben“, hat sie gesagt. „Die Kerle haben mir in die Brüste gekniffen und zwischen die Beine gefasst. Einer hat mir sogar die Zunge in den Hals gesteckt. Und Du hast nur dagestanden.“

Richtig. Die Armlänge Abstand, wie von der Politik im Nachhinein empfohlen, hatte ich in dieser Nacht konsequent eingehalten. Mit Ohnmacht hatte das folglich nichts zu tun. Mit Feigheit erst recht nicht.

Was hätte ich denn auch sonst machen sollen … können … müssen … dürfen? Das habe ich nicht sie gefragt. Das habe ich mich gefragt.

Ja, ich gebe es zu. Am 15. Januar überfiel mich in der halbleeren Wohnung einmal der Wunsch, sehr groß und sehr stark zu sein. Die Freundin eines Zwei-Meter-Mannes, mit Armen so dick wie anderer Leute Oberschenkel, hätten sie bestimmt nicht begrabscht. Nicht einmal zu fünft oder zu sechst.

Am 17. Januar ertappte ich mich am Frühstückstisch bei dem Gedanken, dass sich ein Messer nicht nur zum Brotschneiden eignet. Ob wohl einer von ihnen in dieser Nacht ein Messer dabei gehabt hatte?

In meinem Hunger nach tröstlichen Impulsen sah ich dann beim Abendbrot diese Talk-Show, in der ein sehr gebildeter Gast erklärte, dass Integration naturgemäß nicht immer reibungslos verlaufen könne. Umso löblicher seien daher Schritte in die richtige Richtung. Gemeint waren etwa diese neuen, mehrsprachig untertitelten Bildtafeln in den Schwimmbädern, denen zufolge blonde Mädchen im Bikini kein Freiwild seien. (Fairerweise möchte ich betonen, dass er weder „frei“, noch „wild“ in den Mund nahm.)

Spät, aber für eine Talk-Show nicht zu spät erinnerte ein anderer Gast, kaum minder gebildet, an die deutsche Vergangenheit und die immer währende moralische Verpflichtung. Jeder solle nochmal in sich gehen und sich fragen, was er – oder auch sie – hätte besser machen können. Dass jemand wie ich alles richtig gemacht hatte, sagte trotz alledem keiner der Gäste.

In der Nacht zum 19. Januar musste ich im Halbschlaf an diesen Selbstverteidigungskurs denken; ein Angebot an der Technischen Hochschule im zweiten Semester. Ich hatte nicht daran teilgenommen. Wozu auch? Mich selbst hätte ich ja nicht zu verteidigen brauchen.

Im Internet gierte ich an den Folgetagen nach Sportberichten. Die Frauen von heute lernen Boxen und Kickboxen, werden sogar Weltmeisterinnen. Sie können sich selber wehren. Sie müssen sich selber wehren können.

Die Brandwunde an Agnes´ Hals habe ich übrigens zu spät bemerkt. Einer von ihnen hatte seine Zigarette draufgedrückt. Doch kein Knutschfleck.

Körperverletzung“, „Raub“, „Sexuelle Belästigung“. So etwas müsste in der Anzeige stehen. Nichts von „Unterlassener Hilfeleistung“. Und die Anzeige müsste dahin flattern, wo diese Kerle wohnen. Aber wo ist das?

Der Polizist hinter seinem sicheren, aber wackeligen Schreibtisch hatte uns von vorneherein sehr wenig Hoffnung machen können. Die Täterbeschreibung, die Agnes mit stockender Stimme und verheulten Augen abgegeben hatte, war demnach viel zu vage. Schwarzhaarig, mittelgroß und „relativ jung“ sei jeder dritte oder vierte Migrant in Köln und Umgebung. Wobei der Bulle an diesem Neujahrsmorgen wahlweise mal vom „Ausländer“, mal vom „Nafri“ gesprochen hatte.

Doch dann – vier Wochen nach Silvester – der Kracher, eingeworfen in unseren Briefkasten, der jetzt nur noch mein Briefkasten ist: Wenigstens ein Schuldiger scheint doch noch gefunden worden zu sein. Er besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft und kennt, wie so oft bei Sexualstraftaten, das Opfer sogar persönlich.

Womöglich einer dieser Wiederholungstäter? Jedenfalls war es seine Absicht gewesen, auf der Domplatte erneut in Aktion zu treten. Dort wollte er nämlich auf das Opfer warten. Einen Ring wollte er ihm an den Finger stecken. Am 14. Februar. Nachts, wenn die Sterne funkeln.

                          Den Opfern der „Kölner Silvesternacht“

Name der Autorin/des Autors
Tyrell van Boog
Der Kracher

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