Wenn ich lüge, dann anders

Wenn ich lüge, dann anders

Tania Rupel Tera

Ich war in der fünften oder sechsten Klasse, als ich zum ersten Mal bewusst bemerkte – hier stimmt etwas nicht. Die Geschichte ist kurz, aber mir ist sie wichtig. Zu Hause waren ein paar Verwandte und Nachbarn zum Feiern gekommen. Wir, die Kinder, versuchten durch die Wohnung zu rennen, auf den einen, auf den anderen Balkon, mischten uns unter die Erwachsenen. Viel Platz gab es nicht, und Mutter schob uns oft in die Küche. Gerade waren wir beim Naschen, ungefähr nach zwei Stunden friedlicher Feier, plötzlich drangen laute Stimmen zu uns herein. Jemand brüllte, es folgten mehrere Schreie. Ich rannte sofort, um zu sehen, was passiert war. Ein Nachbar stritt mit meinem Onkel. Ich sah, wie die Nase von Onkel getroffen wurde und anfing zu bluten. In diesem Moment mussten wir wieder nach draußen … Als ich kurz danach noch mal an der Tür stand, hatte sich die Lage beruhigt. Mutter war sauer:

– Von jetzt an wird nur Milch getrunken. Erwachsene Männer, schämt euch! Her mit dem Schnaps!

Da meldete sich auch meine lustige Tante. Sie konnte immer schwierige Situationen auflockern.

– Hey, Leute, was für ein Schlamassel, ah! Genau wie die Zigeuner, hehe. Ein Zigeunerschlamassel war das. Pure Blamage, jetzt machen wir zivilisierter weiter! Prost!

Da wurden wir nochmal nach draußen gefordert. In der Küche aber packte mich unerwartet eine unbekannte Unruhe. Ich überlegte nicht lange und platzte schon wieder ins Wohnzimmer.

– Tante, warum sagtest du: “Zigeuner?“ Hier gibt es keine … Wir sind alle Bulgaren.

Ich weiß nicht mehr, war mein kindliches Gefühl für Gerechtigkeit gestört? Oder war ich genervt, dass Mutti mich immer wieder rauswarf, jedenfalls stand ich in der Mitte und fragte hartnäckig:

– Wie „Zigeuner-Schlalasel..“?

– Sag besser „Schande“, ist leichter.

– Hier sind nur Bulgaren, also ist das eine bulgarische Schande.

Diesmal schob mich Vater zur Tür. Er drückte mir ein Wörterbuch in die Hand und ich erinnere mich nicht mehr, was an dem Abend noch passierte. So fing aber mein Hinterfragen an. Wie jedes Kind hatte ich auch davor viele Fragen, aber an dem Tag kapierte ich endgültig – man darf den Erwachsenen nicht naiv alles abkaufen, sogar ihre Sprache nicht.

Bei uns gab es damals viele solche Ungerechtigkeiten. Ich füge schnell hinzu: Heutzutage ist das Wort als solches verschmäht und diskriminierend. Dennoch, ich möchte authentisch alles wiedergeben. Dazu kommt – auch das Wort „Rassismus“ ist umstritten. Man merkt, es ist nicht einfach, sogar einen einwandfreien Begriff zu finden. Es ist knifflig, obwohl jeder versteht, worum es geht, jeder spürt die Herabsetzung und die Entwürdigung. Einst war das ganz normal da. Alle benutzten diese Sprüche – Lehrer, Eltern, die Passanten auf der Straße, Moderierende in Fernsehsendungen.

Wenn eine Arbeit nicht gut gemacht wurde, war sie „Zigeunerarbeit“. Jemand klaute, versteht sich, wie ein Zigeuner, war schmutzig, hässlich und ähnliches – auch. In unserer ehemaligen „so guten“ sozialistischen Gesellschaft war es nicht anders – es wurde nach einem Feind gesucht, nach einem Schuldigen. Und das waren, wen wundert´s, immer die Minderheiten, die Schwächeren, die „Anderen“ unter uns.

In der Schule hatten wir ab und zu Konflikte. Ein Satz flog wie ein Ball hin und her, fast öfter als der richtige Ball im Hof. Wenn jemand bei einer Lüge erwischt wurde, dann kam augenblicklich: „Du lügst wie eine Zigeunerin.“ Das war quasi eine Volksweisheit. Nach dem Vorfall im Wohnzimmer änderte ich meine Antwort. Es war mir nicht mehr genug, es zu leugnen. Ich schrie: „Nein, ich lüge nicht wie eine … wenn, dann wie eine Bulgarin! Oder wie ich selbst“. Das war ein Schock! Wir sollten eigentlich die guten Mädchen sein, aus „normalen“ Familien, sauber, mit hellerer Haut, wir waren die „besseren“. Das Monopol auf das Böse war vergeben. Und ich sagte: Ich lüge wie ´ne Bulgarin! Große Empörung war die Folge. Bei dem ersten Mal dachten meine Mitschülerinnen, ich sei verrückt geworden. Ich habe mich erklärt, ich bestand darauf, wenn man mir den Vorwurf machte – dann bitte richtig! So habe ich das Dasein einer Außenseiterin kennengelernt, aber das ist ein anderes Thema … obwohl nicht wirklich.

Deshalb wollte ich die Geschichte erzählen. Bin ich ganz frei davon? Nein. Und ich bin eine, die sich Mühe gibt. Aber das sind tief verwurzelte Vorurteile. Genau so tief sind sie in der Sprache drin. Letztes Jahr habe ich den Spruch auf der Straße in Sofia gehört. Es ist überall gleich. Trotzdem, ich will mich vom Gift befreien, ich will meine eigenen, zähen Reste von Diskriminierung ausreißen.

So möchte ich die Kinder ermutigen: Fragt eure wachen, kindlichen Fragen weiter! Glaubt nicht alles, was ihr hört. Vielleicht wissen die Erwachsene es nicht wirklich. Zu uns Erwachsene: Kann sein, manche von uns sind auf dem Holzweg. Denn wer kleine spielende Kinder unter sich beobachtet hat, der kennt die Wahrheit. Bei ihnen existieren solche Abgrenzungen und Voreingenommenheiten nicht. Manchmal hat das eine oder andere Kind keine Lust mit jemandem zu spielen, ist grantig, müde und so weiter. Aber nie wegen der Haut-, Augenfarbe, Geschlecht, Abstammung und Co. Die Kinder spüren in sich – sie sind gleich. Später, mit der Erziehung, kommt der Unfug.

Oh, ja, ich weiß, es klingt zu einfach, zu naiv und das Leben ist viel komplizierter. Stimmt. Dennoch, wir sind alle Menschenwesen mit unseren individuellen Unterschieden, die die Welt schöner, reicher und interessanter machen. Liebe Roma und Sinti, bitte, verzeiht mir für damals! Ich versuche weiter … Leider existieren in der Geschichte unzählige grausame Geschehnisse, die nicht zu entschuldigen sind. Zuletzt waren die fast neun Minuten auf dem Genick von George Floyd so eine Tat.

Ich möchte hier ein Gedicht als Ende setzen. Es ist ein wenig plakativ vielleicht. Egal. Über so ein wichtiges Thema brauche ich keine besonderen Metaphern. Ich will nicht falsch verstanden werden: Ich bin gegen den Rassismus und alle seine Metamorphosen! Und du?

****

So schlafe ich nicht ein

Ich kann so keine Sterne bewundern

Keine Musik hören

Kein Eis genießen

So nicht!

Und du?

Wie tief steckt der Hass?

Ein Knie

Hunderte von Jahren schwer

Drückt gnadenlos zu Boden

Jede Menschlichkeit

Jede Gerechtigkeit

Ich bin am Boden

Wir sind auf den Boden gedrückt

Wer kann so atmen?

Ich kann so nicht …

Name der Autorin/des Autors
Tania Rupel Tera
Link zur AutorInnen-Website
Wenn ich lüge, dann anders

Ein Kommentar zu „Wenn ich lüge, dann anders

  • 26. Juni 2020 um 1:22 Uhr
    Permalink

    Wunderbare Geschichte mit unvergessenen Erinnerung ein Ereignis aus der Kindheit.
    Alltagssprache. Wie gedankenlos sprechen wir Worte aus, die Menschen und Volksgruppen diskriminieren und ein waches und hartnäckiges Kind, das dem auf die Spur kommt und entlarvt.
    Deine Kindheitserinnerungen aus Deiner Familie liebe ich , weil sie mitten in unser jetziges Leben reichen und Farbe bekennen. Und ich erinnere mich selbst.. .

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