Gesang der Steine
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Europa im Mai 2022

Die europäische Aufklärung hat die religiöse Wahrheit, dass wir alle aus Einem entstanden sind, zusammengehören und ein gemeinsames Schicksal auf diesem Planeten teilen, bestätigt. Sie hat uns darüber hinaus die Erkenntnis gegeben, dass die biblische Aufforderung, uns den Planeten Untertan zu machen, einer kritischen Interpretation bedarf.

Diese Erkenntnisse treten besonders klar und kristallin dann hervor, wenn sie erfühlt und erlebt werden und nicht nur am Ende eines intellektuellen Prozesses stehen. Sei es in der meditativen Versenkung, im Gespräch, im Tanz, im Rausch oder bei einem Spaziergang durch blühende Frühlingswiesen. Erst dieses Spüren der Einheit ermöglicht den unbefangenen Blick über die eigene Person hinaus auf andere Menschen und auf alle Lebewesen.

Europa ist ein empathischer Kontinent geworden. Der die Freiheit der und des Einzelnen zur Bedingung der Freiheit aller macht. Der die Würde des Einzelnen in den Mittelpunkt stellt, nicht die Würde der Nation. Europa hat in seiner wechselvollen, kriegerischen und grausamen Vergangenheit gezeigt, wohin es führt, wenn man sich nicht an dieser Idee orientiert. Und wir Europäer sind deshalb besonders gehalten, für diese Ideale einzutreten.

Ob auch die so genannte unbelebte Natur, wie etwa ein Stein, empathisch sein kann, ist aus naturwissenschaftlicher Sicht eindeutig zu beantworten. Aus poetisch-literarischer ebenfalls (siehe sogleich).

Gesang der Steine

Kalksteine

tonnenschwer am Hang

rund und glatt

vom Gletscher geschoben

erwachen

nach kalter Nacht

Still ihr Gewicht

Breitseiten

zur Sonne

die Ruhe liebend

spüren sie

in den Boden hinein

wo Würmer kribbeln

an ihren Unterseiten

Frühlingsverse

flüsternd

Unerwartet zittert die Erde

im Donnern bebt die Luft

die der Ostwind heranträgt

vom Krieg

Verstört

ratlos

hilflos

ihrem Brechreiz ausgeliefert

singen die Steine ein Lied

Name der Autorin/des Autors
Philipp Stoll
Link zur AutorInnen-Website
Gesang der Steine

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