3.7
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Europa ist schön. Sie lehnt sich im Stuhl zurück. Nackte Schulterblätter berühren kaltes Holz. Sie beugt sich nach vorn, geht mit dem Gesicht nah an den Spiegel heran. Ihre linke Hand taucht im Gesichtsfeld auf, nähert sich dem Auge, verharrt kurz, dann strafft sie die Haut. Die Rechte setzt mit dem Kajalstift an. Zieht den schwarzen Balken nach, etwas dicker. Sie muss schön sein.

 

Als Kind war sie schön. Ein schönes Kind, sagten alle. Zu ihren Eltern. Ihr wurde der Kopf getätschelt. Die Hand rutschte ab, wenn sie antwortete. Diesen Fehler beging sie nicht oft. Als sie heranwuchs, war sie schön. Ein schönes Mädchen, sagten alle. Man betrachtete sie gern, wenn sie auf der Wiese spielte und Blumenkränze flocht. Ein Anblick, der das Herz öffnete. Mädchen in weißen Gewändern, Gras unter ihren nackten Füßen, wunderfarbene Blumen in ihrem Haar. Von allen Jungfrauen war sie die schönste. Wie die meisten der Jungfrauen war sie keine, aber darüber sprach man nicht. Diesen Fehler hatte sie nie begangen.

Dann ist er gekommen. Er hatte alles, was man sich wünschen konnte. Volles Haar, kräftige Arme, ein Auto, das in der Sonne blitzte und dessen Dach versenkbar war. Und den richtigen Stempel im Pass.

Jenseits der Grenze ist es schön. Das wussten alle. Dort ist das Leben unbeschreiblich, ganz anders, lebenswert. Nur wer schön genug war, durfte ihn begleiten. Ab und zu besuchte er ihr Dorf, etwa zwei Mal im Jahr. Manchmal nahm er eine von ihnen mit. Manchmal fuhr er weiter, vielleicht ins nächste Dorf, vielleicht ins übernächste. Auserwählte waren sie, die er mitnahm. Traumerfüllte.

Die Mädchen haben ihm schöne Augen gemacht. Sie war unter ihnen. Saß auf der Wiese, ließ die Sonnenstrahlen durch ihr Haar streicheln. Gepflückte Rosen neben sich. Leicht blutete der linke Zeigefinger vom Dorn. Sie hat ihn abgeleckt, sich über den metallenen Geschmack von Blut gewundert. Als er näher kam, hat sie zu ihm hoch geblickt. Nur mit den Augen. Das Gesicht nach unten gewandt. Er lächelte. Sie auch. Als sie ihren Namen nannte, sprach er von Schicksal. Er lud sie ein, in das Auto mit versenkbarem Dach. Auf seinem Bizeps schimmerte eine tintene Mondsichel. Sie dachte, er würde sie zuerst in ihr Elternhaus fahren. Um Kleider zu holen, sich zu verabschieden, es zu erzählen. Aber es ging gleich los. Er würde ihr alles kaufen, was sie brauche. Sie könne später bei ihrer Familie anrufen. Es sei keine Zeit für einen Zwischenstopp. Es ging gleich los. Er fuhr. Er hielt kein einziges Mal an. Die Lehne wurde zu Stein in ihrem Rücken. Der Magen leer. Der Tag farblos. Von außen schlugen Wellen der Dunkelheit an die Autoscheiben. Das Dach war geschlossen, es hielt die Wellen ab von ihr, so dass keine sie berührte. Sie schauerte. Seine braungebrannte rechte Hand stellte die Heizung höher, strich danach kurz über ihre linke Wange. Die Handhaut war rau. Ihr Herz hüpfte. Es würde gut werden.

 

Eine Wohnung. Viele Türen. Ein Zimmer. Atemlosigkeit. Stimmen. Arme. Angst. Er. Sein Atem. Sein Geruch. Sein Schweiß auf ihr. Metallener Geschmack im Mund. Andere Männer. Ihr Geruch. Ihr Schweiß auf ihr. Verhüllte Fenster. Dunkelheit. Endlosigkeit.

 

Sie hatte die Erlaubnis für einen Außeneinsatz erhalten. Das erste Mal. Trat aus dem Zimmer. Durch den Flur. Setzte den Fuß über die Schwelle der Wohnungstür. Das erste Mal in dieser Richtung. Der Hausflur unscheinbar. Die Straße getaucht in helles Licht. Ein Wegweiser, ein Schraubstock an ihrem linken Arm, die ganze Zeit. Auch im Auto. Sie sah durch die geschlossenen Fenster nach draußen. An ihr vorbei glitten alle. Straßen. Ampeln. Geschäfte. Menschen, die einkaufen gingen. Die nach dem Bus rannten. Den Hund ausführten. Sich küssten. Mit ihren Kindern schimpften. Als wäre alles ganz normal. Dann der Kunde. Dem gingen die Augen über. Schön war sie wohl immer noch. Als er mit ihr fertig war, fragte sie nach einem Glas Wasser. Er deutete Richtung Küche. Blieb im Bett. Mit nackten Füßen auf kalten Fliesen und Gänsehaut am Bauch den gewiesenen Weg entlang. Dann das Unfassbare. Eine zweite Tür, die auf einen zweiten Hausflur führte. Nicht dorthin, wo der Schraubstock wartete. Die Treppe hinunter, atemlos, weil der Herzschlag den Hals zudrückte, so gewalttätig war er. Unten gabelte sich der Hausflur. Geradeaus führte er zur Tür, die auf die Straße zeigte. Dort wartete das Auto auf sie. Die andere Richtung führte um die Treppe herum in einen Hinterhof. Darin standen vier graue Plastikstühle um einen grauen Plastiktisch herum. Auf allen lagen verkrümmte Blütenblätter. Der Hof war winzig, umgeben von einer hohen Mauer. Zu hoch zum überwinden. Wo der Putz abbröckelte, war die Nacktheit der roten Ziegel zu sehen. Zurück im Hausflur schob sich eine dritte Tür ins Blickfeld. Hölzern. Nicht abgeschlossen. Sie hastete die Treppe hinunter. Kalter Modergeruch schlug ihr entgegen. Den Fuß der Treppe kreuzte ein Gang, der sich nach links und nach rechts erstreckte. Sie überlegte, in welcher Richtung das Auto stehen musste, und wählte die andere. Der Gang war lang, von schweren, metallenen Türen unterbrochen. Es mochte ein Wunder sein, dass alle sich öffnen ließen. Der Gang war auf beiden Seiten gesäumt von Verschlägen, deren Inhalt durch Holzspalten erspähbar war, weggesperrt mit Vorhängeschlössern. Eines stand offen. Sie hakte es auf, blickte in eine Kammer voll Holz, Pappe, Kisten, prall gefüllten Müllsäcken und einem alten Kinderdreirad, dessen Farben müde waren vom Staub. Die Müllsäcke hielten, was ihr beuliges Aussehen versprach. Sie zog etwas aus dem Kleiderbündel, in dunklen Farben. Sie verputzte sich. Die Ausgangstür am Ende der letzten Treppe im Gang war verschlossen. Die Ausgangstür am Ende der vorletzten Treppe im Gang war offen. Hinaus auf die Straße rannte sie und dann rannte sie weiter.

Frei. Allein.

 

Mülleimer boten Essen. Dunkle Ecken den Schutz. Ein Zurück gab es nicht. Ein Zuhause gab es nur für blumenpflückende Jungfrauen, wissend, was geschehen wird, nicht wissend, wie es sich anfühlen wird.

 

Sie lehnt sich im Stuhl zurück. Der BH-Träger drückt, eingeklemmt zwischen Holzleiste und Fleisch. Als sie sich nach vorn beugt, lässt sie die Hand mit dem Kajalstift sinken. Der Lacktisch ist kalt und hart unter den Ellenbogen. Ihre Fingerknochen stützen kalt und hart das Kinn. Ihr Gesicht füllt den gesamten Spiegel aus. Das geplüschte Bett zu ihrer Linken mit den schweren Kissen darauf ist fast nicht zu sehen. Sie blickt sich in die Augen. Eine Hand, es ist die linke oder die rechte, wischt fest darüber. Sie hinterlässt einen schwarzen Pfad, der sich an der Wange hinunterschlängelt.

Europa will nicht schön sein.

Name der Autorin/des Autors
Tessa Schwartz
Europa ist schön

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