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Gestern Abend wollte ich dir zur Begrüßung einen Kuss auf die bärtige Wange drücken, aber du hast dich weggedreht, gemurmelt, es sei zu viel Stress im Büro, der Chef würde dich unter Druck setzen. Du wolltest an diesem Abend nichts mehr tun, als nur noch eine halbe Senftube auf dein Wurstbrot drücken, um dann zu spüren wie die Schärfe schmerzhaft im Rachen brennt, sobald sich die Zunge gegen den Gaumen presst.

So blieb ich an der Tür stehen, wie angewurzelt mit durchgedrückten Knien, ganz unbeweglich. Ich beobachtete wie du dein Abendbrot im Stehen in der Küche verdrücktest, so wie an allen Tagen zuvor. Sofern du überhaupt irgendwann zu Hause warst, während ich üblicherweise schon lange vor Feierabend am Fenster stand, mir die Nase am Fenster platt drückte bei dem Versuch dich zu sehen, wenn du mit Deiner Aktentasche auf das Haus zugingst. Aber bis es endlich soweit war, hatte ich mich meistens schon wieder abgewendet. Gestern war es, als hätte ich meinen Körper im Warten wie einen Flitzebogen gespannt, so wie an den Tagen zuvor, aber noch ein wenig mehr.

Nachdem du dich mit müdem Gesichtsausdruck auf dein Brot statt auf mich konzentriert hattest, rannte ich sehr schnell los. Ich lief erst in mein Zimmer, um meine Handtasche zu holen und anschließend zur Haustür. Ich kann nicht sagen, dass ich schlich oder die Tür vorsichtig öffnete, es war mir egal, ob du mein Gehen bemerktest oder nicht, ich musste hinaus, an die frische Luft, die Schuhsohlen auf den Boden drücken, mich erden.

Bald danach landete ich bei meiner Freundin Lisa, die mir gleich ein Taschentuch in die Hand drückte, obwohl ich noch gar nicht weinte. Aber genau dann fing ich an. Ich konnte gar nicht wieder aufhören und sie sagte immer wieder mit Nachdruck, das ginge doch so nicht, dass die Arbeit oder dieser komische Chef eine Partnerschaft zerstöre.

Irgendwann, es war schon spät, bot sie mir ein Nachtlager auf der Couch an und ich nahm das an. Lisa ging schlafen und ich hatte noch einen Brief an dich geschrieben. In Schönschrift, mit blauem Kugelschreiber auf dem Papier mit den kleinen Möwen, das seit unserem letzten Urlaub in meiner Handtasche steckte. Dass es so nicht weiter geht, schrieb ich, und alles, was mich bedrückte stand darin. Dann hatte ich das Möwenpapier gefaltet, in einen Umschlag gesteckt und eine Briefmarke aus meiner Geldbörse gekramt, sie mit der Zunge befeuchtet und auf den Umschlag geklebt, mit dem Zeigefinger noch festgedrückt. Es schien so wichtig, dass ein Postbote die Verbindung zwischen uns knüpfte, weil ich unmöglich wieder vor dir stehen wollte, nur um weggeschickt zu werden.

Danach war ich müde, erschöpft.

Da sah ich plötzlich wie die Türklinke zum Wohnzimmer ganz langsam herunter gedrückt wurde. Ich war sofort wieder hellwach, rief leise, ängstlich „Lisa, bist du das?“

Aber dann hast du plötzlich vor mir gestanden, mit zerzausten Haaren und einer Falte mehr im Gesicht, wie mir schien. Mit zwei, drei Schritten warst du an meinem Sofa, ich hatte mich aufgerichtet und im nächsten Moment, lag ich in deinen Armen, sog den Duft deiner Haut ein, die mit Angstschweiß bedeckt war, sah hinter deiner Schulter Lisa im Türrahmen stehen, die lächelte und du hast so fest zugedrückt, dass ich kaum Luft bekam. Aber es tat so gut, ich brauchte gar keine Luft.

Nur dich.

Name der Autorin/des Autors
Verena Liebers
Link zur AutorInnen-Website
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8 Kommentare zu „Druckstellen

  • 22. April 2021 um 9:26 Uhr
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    Der Druck, der gerade auf uns allen lastet, lässt sich mit diesem Text sehr gut nachempfinden. Mir ist einmal mehr bewusst geworden, wie stark die Situation selbst den häuslichen Alltag und die familiäre Beziehung verunsichert.
    Ein empfehlenswerter Textbeitrag!

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  • 22. April 2021 um 6:46 Uhr
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    Das Wortspiel wirkt stellenweise ein bisschen künstlich.
    Schönschrift mit Kugelschreiber- geht das?
    Ansonsten sehr wohltuend!

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  • 22. April 2021 um 0:36 Uhr
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    Ein wunderbarer Text, der unter die Haut geht. Auch in meinem eigenen beruflichen Kontext drängen sich Parallelen auf. Und schlussendlich ist es das WIchtigste zu begreifen, dass das Problem nicht in der Beziehung liegt, sondern ein äußerer Umstand ist. Danke Verena!

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  • 21. April 2021 um 17:08 Uhr
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    Für diesen Text möchte man der Autorin gerne dankbar die Hand drücken.

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  • 21. April 2021 um 14:43 Uhr
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    Ein Text, bei dem man fast vergisst, dass man liest, alles wird mitgefühlt. Schön!

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  • 21. April 2021 um 7:36 Uhr
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    Ein sehr berührender Text! Beruhigend, dass es ein Happy End gibt!

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  • 20. April 2021 um 12:43 Uhr
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    Eine Geschichte, die unter die Haut geht…
    Schmerzende, fast unerträgliche Distanz und unendlich große Sehnsucht nach körperlicher Nähe- Gefühle, die gerade in der heutigen Zeit ganz besonders nachzuempfinden sind. Wie wohltuend, dass Verenas Geschichte ein Happy End hat, das wir uns alle von Herzen wünschen. Danke! 💞

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  • 19. April 2021 um 23:13 Uhr
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    Ein Text, den man fast körperlich miterleben kann…

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