Wo ist Europa?
20.05.2020
Petra Ina Lang
Ich bin seit Monaten nicht mehr rausgekommen. Seit dem 15. April 2019, als Notre Dame gebrannt, das Feuer den Himmel angezündet hat, konnte ich diese Stadt nicht mehr so sehen wie vorher.
Diese wunderschöne Stadt, egal, wo du hinläufst, du findest immer Leute, Läden und Lavendel.
Ich lebe nicht weit weg von der Metrostation Blanche, ich und Europa, Europa und ich.
Dann war der Winter vorbei, und wir haben das Fenster wieder aufgemacht. Der Duft des Frühlings stieg zu uns hoch. Ich mistete erstmal alles aus. Europa hat mir geholfen, und schon war alle Last dahin.
Klar, dass wir erstmal wieder auf den Montmartre wollten. Aber irgendwie ist Paris vorübergehend geschlossen. Nirgendwo Leute, und wenn, dann mit Binde um Nase und Mund. Was verstecken die? Wachsen denen grad Hörner an den Nasen, Nashörner, dachte ich. Mensch, ich muss die Nashörner von Eugène Ionesco mal wieder lesen! Ist ja nicht verkehrt in diesen Zeiten oder eigentlich immer und überall.
Die Bistrots hatten zu. Egal. Ich war ein frisch rasierter und geduschter Mann und nach so langer Zeit wieder im Freien. Leicht war die Luft. Selten war mir so wohl, und auch Europa tänzelte und machte Sprünge, dass mir das Herz aufging.
„Haben Sie heute schon Verantwortung übernommen?“ fragte eine Passantin, die einen großen Bogen um mich machte.
„Oh ja“, vergewisserte ich Sie, „Ich habe Ordnung gemacht!“
„Na, dann“, sagte sie, „Friede den Hütten, Kampf den Palästen!“
„Sie sind ein kultivierter Mensch!“, lobte ich sie.
„Ich gehe mit der Zeit“, sagte sie. „Allerdings ist meine Zeit schon vergangen, verzeihen Sie!“
„Wo ist Europa?“, fragte ich eigentlich nicht sie. Europa war weg, von einer Sekunde auf die andere.
„Europa ist in Gefahr!“, sagte die Frau, die so freundlich war, auf meine Frage zu antworten.
*
Ich suchte den ganzen Hügel ab. Verdammt steil dieser Montmartre. Deswegen heißt er auch so. Es gibt verdammt viele Hügel überall. In Rom zum Beispiel, war ich auf sieben Hügeln, in München auf dem Nockher-, und dem Giesinger Berg, in Frankfurt auf dem Frankfurter Berg, in Lissabon, ach Herrje. Ich war überall. Ich weiß doch, meine Europa mag Hügel, die muss immer und überall hoch, um runterschauen zu können. Das ist das Gipfelerlebnis, und Europa braucht ständig Gipfelerlebnisse.
Ich war dann in England, Schweden, Polen, Norwegen, eigentlich überall. Überall diese Nashornmenschen. Mal hier netter als anderswo.
Einer in einer herrlichen Hügellandschaft in Deutschland nicht weit von dem Fluss Main entfernt rannte auf mich zu und hat mir ins Gesicht gehauen. Meine Nase blutete, und ich hielt mir ein Taschentuch davor. Da stellten sich die Leute um mich in gebührendem Abstand und applaudierten. Mir! Ich habe in meinem Leben noch nie einen Applaus bekommen, und nun das! Ich war so gerührt, dass ich kurz vergaß, warum ich eigentlich hier war.
„Das ist der Gipfel!“ rief da einer, „sie müssen sich besser schützen, Mann!“
Da fiel es mir wieder ein: Die Gipfel, ich musste weiter. Zu den Scheitelpunkten der Geschichte zog es mich, da, wo Hannibal über die Alpen schritt, wo Ötzi sein Ende fand, dahin musste ich, da würde ich meine Europa wieder finden.
Aber wo genau sollte ich hin?
Sollte ich eine Liste aufstellen oder Europas Los per Los bestimmen? Oder ein Gremium einberufen, aber wie denn?
„Halten Sie doch Abstand!“, rief eine Frau, der ich in meiner Not zu nahe auf die Pelle gerückt bin, weil ich wissen wollte, ob es da weitergeht.
„Aber, junger Mann, es geht immer weiter!“
„Und Europa?“
„Sie werden immer ankommen. Ein Mann wie sie, dem öffnen sich alle Türen. Und wenn ich Sie fragen darf, woher kommen Sie denn?“
„Ach, Europa!“
„Europa, guter Mann“, sagte die nette Dame, „Europa ist in ihrem Herzen. Sie werden es finden. Glauben Sie mir, aber nicht da, wo sie denken!“
Ich verbot mir den Spruch: „Aber nur mit dem Herzen sieht man gut.“ Aber irgend etwas hatten die Worte der Frau in mir ausgelöst, und ich ließ den Plan fallen, die Alpen hinaufzufahren, um dort auf einem der Tausender meine Europa wieder zu finden.
„Ich habe Wurzeln in südost, in nordwest- und in Mitteleuropa“, rief ich der Frau noch nach. „Mein Papa kommt aus Ghana.“ Sie wollte doch wissen, woher ich kam.
*
Ich verließ Europa. Nein, nicht meine, DAS Europa.
Ach, wie weit musste ich gehen, um sie wieder zu finden! Meine Europa!
Zunächst war ich in China, und es glaubt mir keiner, aber ich fand dort das alte Europa. Ganze Städte sind dort nachgebaut worden, englische Städte, little London, Paris! Ja, mein Paris in China. In Shanghai steht ein Eiffelturm, der über das Marsfeld und über eine Reihe Pariser Bürgerhäuser schaut. Das ist kein Disneyland in China, nein, die Leute leben da ganz normal.
Meine Europa fand ich nicht.
Amerika! Hatte die Frau Amerika gemeint?
Ich habe gelesen, in Amerika gibt es eine ganze Stadt, die heißt Frankenmuth in Michigan oder auch „Little Bavaria“, „Klein-Bayern“. Da fiel mir das wunderbar weiche Wüstenrot des fränkischen Sandsteins ein, das Europa so liebte.
Also fuhr ich nach Franken.
Ich suchte in Kleinlangheim, in Volkach und Dettelbach.
Aber ich fand keine Europa.
Wo war sie?
„Sie ist doch so klein“, dachte ich, „ich will nicht zynisch sein, nicht größer als ein griechischer Hirtenhund. Und wenn sie in Griechenland war? Und wenn sie sich verliebt in einen Griechen, der altgriechisch spricht“, sagte eine Stimme in meinem Kopf.
„Och“, sagte ich mir. „Ein bisschen Bildung kann nie schaden.
Bloß, muss Europa gebildet sein?“
Also weiter!
Ich machte einen Stopp in Brüssel. Dort fand ich einen Park.
Nahezu alle Sehenswürdigkeiten Europas stehen auf dem Gelände. Vom Big Ben bis zu den Gondeln Venedigs, von der Berliner Mauer bis zu einem Stierkampf in Sevilla.
Europa fand ich nicht.
In Italien gibt es das “Italia in Miniatura”. Dort ist neben Italien ganz Europa zu bestaunen. Deutschland ist mit Schloss Neuschwanstein vertreten.
Europa fand ich nicht.
Der Park “Sabat Krajno” in Polen bildet die üblichen Verdächtigen ab: Das Brandenburger Tor, den Big Ben, unseren Triumphbogen in Paris oder die Akropolis in Athen.
Europa fand ich nicht.
Also dann doch Amerika.
Ich war fast der einzige Fluggast.
„Wo wollen Sie denn hin?“, fragte mich die Stewardess.
„Irgendwohin, wo Auen sind“, sagte ich, „Wiesen!“
„Dann müssen Sie nach Vegas!“, riet sie mir. Las Vegas. „Der Name stammt aus dem Spanischen“, sagte sie. „Es bedeutet ‚Die Auen‘ oder ‚Die Wiesen‘“. Habe ich also auch was gelernt.
„Und gibt es da genug Wasser?“, wollte ich wissen.
„Noch!“, sagte sie und lächelte schwach.
*
In Las Vegas endlich fand ich sie.
Ich lief durch die Fremont Street. Dort gibt es Hotels, die stellen Nachbauten von bekannten Orten der Welt dar. Unseren Eiffelturm gibt es auch. Mir kamen die Tränen. Meine Metrostation Blanche, weiß wie meine Europa, wie ich mich nach ihr sehnte.
Ich stand vor den Wasserfontänen und wartete auf die nächste der bis zu viertelstündlich stattfindenden Wassershows mit Wasserfontänen zu Musik.
In dem Moment war es mal still.
Dieses Lachen. Wenn Europa lacht, wiehert sie.
Ich schaute auf.
Europa lief vor mir her, als liefe sie Richtung Montmartre. Sie tänzelte, schaute zur Seite. Ich sah ihren ausgeprägtem Hechtkopf, so nennt man das. Perfekt. Wunderschön! Oh, Europa, dreh dich um!
Sie blieb stehen. Dann drehte sie sich um, unendlich langsam, als müsse sie diesen Augenblick so lange wie möglich hinausziehen.
Sie schnaubte wie immer, wenn sie wusste, ich hatte einen Apfel dabei, einen guten rotwangigen Boskop und hielt den Schweif hoch vor Erwartung.
Dann kam sie, klapperte mit ihren vier kleinen Hufen, schaute mich an mit einem Blick, den nur griechische Hirtenhunde haben, aber bitte, meine Europa ist kein Hund.
Sie ist ein reinrassisches Araberblut.
Sie kommt aus einer langjährigen Züchtung, und wie die Europäer alles klein kriegen, haben sie auch diese Rasse so handlich praktisch gut hingekriegt, dass selbst die Japaner staunen.
Da lief sie nun auf mich zu, meine Europa, meine schöne kleine weiße Stute. Neigt den Kopf zu mir. Schaut mich an mit ihren großen glänzenden Augen.
Ein Sprung, und ich saß auf ihrem Rücken.
Dann ritten wir ein Stück durch die untergehende Sonne.
Und ich gebe jetzt acht, sie nicht noch einmal zu verlieren.
Wieder eine tolle Story, ganz im Stil von Petra Ina Lang!
Danke für die interessante Weltreise auf der Suche nach Europa.