Europas Gärten
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Europas Gärten

von Ilka Baral

 

Als Kind konnte ich das „Haus vom Nikolaus“ in einem Linienzug zeichnen. Ich war stolz und malte es überall hin. Mit Beginn meiner Teenagerjahre tauschte ich es aus gegen das Yin-Yang-Symbol und das Peace-Zeichen. So wie meine gesamte Generation der 1960er Jahre malte ich sie fortan mit dickem, schwarzen Edding-Stift auf Jeanshosen, Turnschuhe, Rucksäcke und Schulordner.

Yin und Yang, so hatte irgendjemand behauptet, stünden für den Einklang des Weiblichen mit dem Männlichen. Ich verstand es intuitiv als Ausdruck weiblicher Emanzipation – und ahnte nicht, wie falsch ich damit lag. Als kriegerisches Symbol auf Schildwappen früherer Zeiten passte es kaum zu dem britischen Peace-Logo, welches nicht nur für Frieden stand, sondern auch für atomare Abrüstung. Aber Atomkraft war ohnehin etwas, wogegen wir alle waren. Wir waren oft gegen etwas und demonstrierten viel. Mit 18 Jahren fand auch ich mich das erste Mal umgeben von Demonstranten, mitten in einem Wald am Rande Wiens. Ich hatte keine Ahnung, um was es ging.

Es kamen die Ostermärsche, die Friedensketten, die Lichter für den Frieden, die Demos für den Frieden. Wer sich intellektuellen Anstrich geben wollte, bezeichnete sich als „Pazifist“. Junge Männer, die freiwillig Wehrdienst leisteten, waren verpönt. Junge Frauen, deren Bruder oder Freund „Zivi“ war, erwähnten das mit Stolz in der Stimme. Bald kamen die Reisen nach Indien und das Suchen nach dem Ich. Auf irgendeine Weise waren wir alle an Erkenntnis und Erleuchtung interessiert. Mehr oder weniger Droge war immer dabei. Und allein dieser Umstand verdeutlicht, wie verzweifelt tief wir in idealisierenden Träumen feststeckten, weit entfernt von der Realität.

Doch ich erinnere mich auch gut an einen sehr nüchternen, jugendlich unreifen Zweifel in mir. Er war es, der mich schweigen ließ, wenn Mitschüler und Freunde sich laut für Pazifismus und gegen die Bundeswehr aussprachen. Der Einwand in meinem Kopf war simpel: Wer verteidigt uns, wenn wir keine Bundeswehr mehr haben und uns irgendein größenwahnsinniger Idiot angreift? Meine persönliche Herkunft war psychisch rau. Ich wusste, dass Angriffe jederzeit und überall lauern konnten. Das Thema Verteidigung war deshalb so allgegenwärtig wie schwierig für mich. Doch ich ging der Frage nicht nach. Die Zeiten erforderten es nicht. Wir lebten im Luxus des Friedens.

Wohl auch deshalb blieb mein innewohnender Zweifel über die Jahre passiv. Vor drei Monaten änderte sich das. Es war der 10. Februar, als er plötzlich aktiv wurde und genau wusste, wohin er gehörte. Es schien, als sei er erwachsen geworden. Er war laut und wollte raus. Es war der Tag, an dem Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer ihr „Manifest für den Frieden“ veröffentlichten.

Zunächst war ich fassungslos: Wirft also ein aggressiver Nachbar dem anderen des Nachts Molotowcocktails über die Hecke, soll dieser hinübergehen, einen Tee mit dem Angreifer trinken, ihn respektvoll fragen, welchen Teil des eigenen Gartens ihm denn genehm wäre, um sodann die Hecke zu versetzen und den Rasen zu überlassen – rein um des scheinbaren Friedens willen?

Das forderten nicht nur zwei Frauen, die beide keine Sekunde zögern würden, ihre Laptoptaschen gegen Köpfe zu schwingen, sollten diese ihre Individualdistanz ungefragt überschreiten, sondern mit ihnen mehrere hunderttausend Unterzeichner:innen, die möglicherweise allesamt mit satten Bäuchen im sicheren Zuhause saßen, ein wohltemperiertes Glas Rotwein in der Hand? Wozu haben wir so viel geredet, um der Gesellschaft zu verdeutlichen, dass im Falle von Übergriffigkeit und Gewalt nicht der Täter verteidigt, sondern das Opfer geschützt und vor selbstschädigenden Zugeständnissen und Kompromissen bewahrt werden muss, wenn wir nun bei völkerrechtlichen Aggressoren mit der alten, falschen Haltung von vorne beginnen?

Alsbald war ich verärgert, mit welcher Dreistheit Wagenknecht und Schwarzer die Menschen glauben lassen wollten, sie hätten das friedliche Leben ukrainischer Bürger im Sinn. Mein Eindruck war: Das ist mitnichten der Fall. Das „Manifest“ strotzt nicht nur von privilegierter Überheblichkeit. Es verfolgt auch abweichende Ziele, für deren Erlangung die Not der Ukraine lediglich schamlos instrumentalisiert wurde. Dabei kann man den Damen keine Naivität unterstellen, sind sie doch beide Urgesteine der Öffentlichkeits- und Pressearbeit. Sie wussten folglich genau, was sie taten.

Und so sage ich heute mit Bestimmtheit, was ich vor 40 Jahren nur vage fühlte: Frieden kann keine moralische oder politische Forderung sein. Frieden ist ein großes Glück und per se instabil. Er basiert auf der Bereitschaft freundlich gesinnter Nachbarn. Jedoch, bei einem Angriff durch einen feindlich motivierten Nachbarn darf und muss Frieden hart verteidigt werden können. Ohne Waffen ist das nicht möglich und kluge Verteidigung will gelernt sein. Deshalb braucht jedes Land zu jeder Zeit seine gut ausgebildeten und angemessen ausgestatteten Streitkräfte. Nicht um Krieg zu führen, sondern um Frieden verteidigen zu können. Beides sind grundverschiedene Anliegen.

Gerade weil das Leben für uns alle in der Zukunft nicht einfacher werden wird, sollten wir stets über die eigene Landesgrenze hinausdenken. Wir müssen bereit und in der Lage sein, einem überfallenen Nachbarn zu helfen – auch und erst recht, wenn unser eigener Garten noch frei von Molotowcocktails ist. Denn: Fällt der Garten des Nachbarn, kommt der Aggressor uns näher. Und kein siegreicher Aggressor wird jemals satt sein. Sich mit plakativem Aktionismus, der das Opfer bevormundet und den Verlust seiner Wehrhaftigkeit erzwingt, aus der Verantwortung zu stehlen, ist infam. Die Ukraine bei der Verteidigung des verlorenen Friedens zu unterstützen und damit auch den Frieden in unserem eigenen Land zu sichern, ist unsere europäisch-nachbarschaftliche Pflicht.

 


© 2023 Ilka Baral ib@ilka-baral.de


 

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Ilka Baral
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Europas Gärten

5 Kommentare zu „Europas Gärten

  • 22. Mai 2023 um 11:19 Uhr
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    Liebe Ilka, herzlichen Dank!
    Eine starke europäische Gemeinschaft trägt – wie dein Artikel zeigt – auch für den Frieden Verantwortung. Und die Sprache eines Aggressors besteht leider nicht nur aus Worten.

    Antworten
  • 22. Mai 2023 um 11:18 Uhr
    Permalink

    Liebe Ilka,
    herzlichen Dank! Eine starke europäische Gemeinschaft trägt – wie dein Artikel zeigt – auch für den Frieden Verantwortung. Und die Sprache eines Aggressors besteht leider nicht nur aus Worten.

    Antworten
  • 19. Mai 2023 um 10:32 Uhr
    Permalink

    Sehr schön und ein treffender Vergleich mit den Gärten. Das vergessen sehr viele, wie sie in einer solchen Situation reagieren würden!
    Spricht mir aus der Seele 🙂

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  • 17. Mai 2023 um 15:47 Uhr
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    Ein schöner Text und eine treffende Analyse von dir, Ilka. Spricht mir außerdem sehr aus dem Herzen. 5 Sterne für dich und auch für die Ukraine!

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